Highly Sensitive Person

1997 machte die US-amerikanische Psychotherapeutin Elaine N. Aron von sich reden. Ihr Buch "The Highly Sensitive Person. How to Thrive When the World Overwhelms You" erschien in Deutschland unter dem Titel „Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen“. Das Buch wurde in 80 Sprachen übersetzt und erzielte Millionenauflagen. Die Hochsensitivität beschrieb Aron als eine „offenere und subtilere Wahrnehmung sowie eine intensivere und verlängerte zentralnervöse Verarbeitung von inneren und äußeren Reizen, die auf das Bewusstsein übertragen werden“.

HSP Resources by Elaine N. Aron, PhD

 

Bei Hochsensitivität handelt es sich ihrer Meinung nach um ein eindimensionales Merkmal der evolutionären Höherentwicklung der Wahrnehmung, über das nur 15 % der Menschheit verfügt. In ihren wissenschaftlichen Beiträgen bezeichnete Aron die Hochsensitivität als „sensory processing sensitivity“, kurz SPS. Mit der von ihr entwickelten „Highly Sensitive Person Scale“ (HSP-Test) konnte sich jeder selbst befragen, ob er auch über diese Begabung verfügt. Unzählige Menschen erkannten sich und waren erleichtert und stolz zugleich.

 

In diesem Test wird aber nicht nur die Empfindsamkeit, Empathie und Fürsorglichkeit (Sensibilität) abgefragt, sondern vor allem Merkmale der Empfindlichkeit (Sensitivität), zum Beispiel die Empfindlichkeit gegenüber Kaffee, Alkohol und Schurwolle, lauten Geräuschen und grellen Lichtern, Martinshörnern, chaotischen Vorgängen oder Fernsehsendungen und Spielfilmen mit Gewaltszenen, Mehrfachbelastung oder Konkurrenz-, Zeit- und Leistungsdruck, Folgen von Veränderungen und nach Hinweisen auf Reizbarkeit und geringe Belastbarkeit. Trotzdem betonte Aron von Beginn an, dass die Hochsensitivität weder auf ungünstige Kindheitserlebnisse oder belastende Lebensereignisse zurückgeführt noch mit ähnlich erscheinenden psychischen Störungen verwechselt werden dürfe.

 

Die ideologisierte Darstellung der Hochsensitivität erklärt sich aus Arons persönlicher Vorgeschichte. 1986 erwachte sie nach einem harmlosen operativen Eingriff aus der Kurznarkose und reagierte offenbar mit starker psychomotorischer Erregung. Eine hinzugezogene Fachärztin für Psychiatrie bemerkte damals beiläufig, die Patientin sei wahrscheinlich „hochsensitiv“. Sensitive Persönlichkeiten gelten in der Psychiatrie als Persönlichkeitsstörung.

„Einerseits Feingefühl, Einfühlsamkeit, Gewissenhaftigkeit und Hilfsbereitschaft, andererseits Unsicherheit, Gefühle der Unzulänglichkeit, geringe Frustrationstoleranz und Belastbarkeit: Diese sensitiven Merkmale können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Auf der einen Seite finden sich sensitive Menschen, die im Alltag vielfach anzutreffen sind, ohne dass ihre Sensitivität auffällig würde. Auf der anderen Seite stehen die stark ausgeprägt sensitiven Menschen, deren Empfindlichkeit im alltäglichen Umgang auffällt, die sichtlich unter ihrer Persönlichkeitsstruktur leiden und immer wieder in so tiefe Krisen geraten, dass eine Behandlung notwendig wird. Die sensitive Persönlichkeit wird unter dem Fachbegriff „ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung“ bzw. „Vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung“ in die ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten) der WHO (Weltgesundheitsorganisation) aufgenommen wurde.

Rainer Tölle, bis 1998 Leiter der Klinik für Psychiatrie an der Universität Münster,

schrieb 2013 für die Zeitschrift „Der Nervenarzt“ einen Beitrag über »Die sensitive Persönlichkeit«.

Zehn Jahre lang bemühte sich Aron darum, die sensitive Persönlichkeit evolutionsbiologisch und psychoanalytisch als Höher- und Weiterentwicklung der Wahrnehmungsfähigkeit zu erklären.

 

Arons Veröffentlichungen wurden von Beginn an außergewöhnlich kontrovers diskutiert. Dabei wurde die Sensory Processing Sensitivity an sich nicht in Frage gestellt, sondern die vermeintliche Eindimensionalität des Konstrukts. Untersuchungen der HSP-Test-Ergebnisse zeigten, dass es sich um mindestens zwei Dimensionen handelt, die Stärken und die überwiegenden Schwächen beschreiben namhafte Psychiater, wie Ernst Kretschmer in seinem 1918 erschienenen Buch "Der Beziehungswahn" oder Karl Jaspers in seinem 1953 herausgegebenen Lehrbuch. Studien von Neal, J. A. (2002), Liss M. (2005, 2008), Meyer B. (2005) und die Metaanalyse von Lionetti F. (2018) fanden bei hochsensitiven Persönlichkeiten eine deutliche Neigung zu Angststörungen und Depressionen.

 

Sensible Menschen sind im Gegensatz zu sensitiven Persönlichkeiten nicht krank. Im Gegenteil, sie imponieren wegen ihrer Tugenden, ihrer Empfindsamkeit, ihres Einfühlungsvermögens und ihrer sozialen und künstlerischen Talente. Diese Persönlichkeiten finden sich vor allem in sozialen Dienstleistungsberufen und unter Kulturschaffenden. Es handelt sich nicht um eine kleine elitäre Gruppe Hochbegabter, sondern um den größten Teil der sozioökonomisch gehobenen Mittelschicht. Für „hochsensible Persönlichkeiten“ ist allerdings das Risiko erhöht, da sie leichter am Tempo des Fortschritts scheitern. In aktuellen Studien liegt der Anteil sensitiver Persönlichkeiten in den westlichen Wohlstandsgesellschaften bei 30 bis 40 Prozent!