Fluch und Segen der bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehungsstile

Schon früh warnten namhafte Experten vor den Folgen dieser Form der Erziehung. Horst Eberhard Richter erwarb sich schon in den Siebzigerjahren mit seinen Ausführungen über den Eltern-Kind-Konflikt weltweites Ansehen. Er erkannte bei den Eltern eine eindeutige Tendenz zum Narzissmus. Die Eltern seien davon überzeugt, dass sie mit ihrer Überbehütung ihren Kindern zum besten Start ins Leben verhelfen. Tatsächlich gingen sie zunehmend um ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Verletzungen und Verlustängste aus. „Sie wollten sich über ihre Kinder selbst verwirklichen, beziehungsweise die eigenen Verletzungen heilen“.

 

Thure von Uexküll beschrieb 1996 in seinem Lehrbuch „Psychosomatische Medizin“ am Beispiel der Neurodermitis den zugrunde liegenden Mutter-Kind-Konflikt. Die Mutter bietet „eine exklusive Beziehung mit großem Einfühlungsvermögen und übersteigerter Fähigkeit zur affektiven Einstimmung an, die einen überbehütenden Charakter besitzt. Befriedigung soll nur im Kontakt mit ihr erlangt werden können. Progressive Tendenzen werden so blockiert. Es erfolgt eine Verwöhnung durch übermäßige narzisstische Befriedigung, welche die Individuation und Autonomieentwicklung behindert. Die Mütter dieser Kinder haben eine Tendenz, in der primären Mütterlichkeit zu verharren und besetzen ihre Identität als Partnerin des Mannes kaum mehr. Sie behalten ihr Kind auf dem Niveau eines Babys“.

 

"An der Nabelschnur durchs Leben gezogen" titelte ein Beitrag in der 22. Ausgabe des Focus Magazins 2012. Sie stillen, bis das Kind vier ist. Sie hätscheln den Nachwuchs bis zum Führerschein. „Helikopter-Eltern“ geht es um Erfolg. Dabei richten sie viel Schaden an. Das Fazit des Beitrages von Ellen Daniel, Elke Hartmann-Wolff und Susann Remke: „Selbstständigkeit? Ist offenbar kein vorrangiges Erziehungsziel mehr. Ob Mütter, die sich zur Sklavin ihres Kindes machen, schon das Ende des Trends anzeigen? Im Blog „Jezebel“ stellte die Autorin Tracey Morrissey eine gute Frage: „Könnt ihr euch vorstellen, einen Typen zu heiraten, der bis zur Schule gestillt wurde und bei Mama schlief, bis er neun war? Macht euch klar, welche Familienfeiern mit welchen Schwiegermüttern ihr durchzustehen hättet.“

 

Werner Stangl schrieb in seinen 2021 erschienenen Arbeitsblättern-News von "Too good Mothering – Probleme der Überversorgung, Überbehütung, Verwöhnung". Beispiele dafür sind Helikopter-Eltern oder Tiger Moms, die ihre Kinder überbehüten oder zu Höchstleistungen antreiben.

 

Die Vorstellungen von der Erziehung haben sich seither dramatisch verändert. Mehr als je zuvor wird das Verhalten der Eltern für die Entwicklung ihrer Kinder verantwortlich gemacht. Die bisherige „schlechte Erziehung“ sei für die sozialen Missstände, beispielsweise für die schlechte Bildung und die zunehmende Kinderkriminalität verantwortlich.

 

Der Wandel äußert sich in zwei prominenten Erziehungsansätzen: dem Intensiven Parenting (IP) und dem Attachment Parenting (AP). Das IP wird beschrieben als kindzentriert, von Experten geleitet und arbeitsintensiv. Durch stimulierende Aktivitäten und die Erfüllung aller kindlichen Bedürfnisse soll die bestmögliche Entwicklung des Kindes erreicht werden. Auf der anderen Seite findet Attachment Parenting, auch als bindungs- oder bedürfnisorientierte Elternschaft bekannt, in der Forschung und in den sozialen Medien immer mehr Aufmerksamkeit. Eine der schärfsten Kritikerinnen ist Carolin Rosales, geboren 1982 in Bonn, die als Redakteurin der Funke Mediengruppe arbeitet und zudem Autorin von zwei Sachbüchern ist.

2012 gründete sie den Blog "Stadtlandmama.de", der bis

heute zu den größten Elternblogs in Deutschland zählt.

Sie lebt mit ihren zwei Kindern in Berlin

und ist Gastautorin von "10 nach 8".

© Aram Pirmoradi

 

 

"Attachment parenting war für die Mütter in meiner Umgebung nur die Einstiegsdroge, das Ticket in die Hölle der Selbstoptimierung. Es beginnt mit Stillen und Tragen. Und es endet mit Bernsteinkettchen, ätherischen Ölen, Chiropraktikern, einer Trageberatung, Babymassage-Kursen – und jeden Tag auch mit dem dumpfen Gefühl, dass es doch nicht genug war. Dass man alles richtig machen will, es die Anderen aber irgendwie besser können.

Verstärkt wird dieses Gefühl durch die Begegnung mit anderen Attachment-parenting-Eltern. Ich erinnere mich an unzählige toxische Zusammenkünfte, bei denen es zu folgenden Aussagen kam:
 'Was, du hast einen Babysitter? Also wir lassen uns damit ja noch Zeit und wollen erst einmal als Familie ankommen.'

'Was, du hast dein Baby schon geimpft? Dann stillst du wohl nicht voll, sonst würde es ja von deinem Nestschutz profitieren.'

'Was, du willst schon wieder arbeiten gehen? Also, für uns kommt das erst infrage, wenn Lena mir ihre Gefühle mitteilen kann.'"

Carolin Rosales

Der Druck, die eigenen Bedürfnisse denen des Kindes unterzuordnen, kann für Eltern eine hohe psychische Belastung darstellen und das Gegenteil bewirken. Erhöhter Stress der Eltern, insbesondere bei den Müttern, kann zu einer schlechteren Entwicklung und sogar zu Depressionen der Kinder führen, wie H. H. Schiffrin, H. Godfrey und M. Liss in der Studie "Intensive parenting: Does it have the desired impact on child outcomes?" von 2015 nachgewiesen haben. Die Balance ist eine AP-Illusion. Tatsächlich wirkt nichts beruhigender auf die Kinder als glückliche, zufriedene und gelassene Eltern.

 

Die Untersuchung von L. Redeker mit dem Titel "Attachment Parenting: Segen oder Fluch?" ging 2023 an der Universität Kassel der Frage nach, wie sich bindungsorientierte Erziehung auf den Mental Load, das heißt die zusätzliche mentale Arbeit, auswirkt. Mit einer Fragebogenstudie wurden 283 Eltern mit Kindern im Alter von 0-5 Jahren untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass Attachment Parenting bei den Eltern zu einem erhöhten Mental Load führt. Im Geschlechtervergleich zeigten Väter sogar ein höheres Stressniveau als Mütter.