Die Ära der ergänzenden Behandlungsverfahren

Im dritten Obergeschoss des Akademischen Lehrkrankenhauses, in dem ich meine Weiterbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin absolvierte, befand sich die Isolierstation. Dort lagen Kinder mit ansteckungsfähigen Krankheiten und Kleinstkinder mit Neurodermitis. Diese waren entweder von Kopf bis Fuß in Verbände gehüllt oder man hatte ihnen Papphülsen über die Ärmchen und Beinchen geschoben, um sie am Kratzen zu hindern. Manche waren an allen vier Gliedmaßen am Bett fixiert. Diese Kleinen lagen stundenlang schreiend in ihren Betten. Es war grausam anzusehen. Für die Behandlung war nicht ich zuständig, sondern die Kollegen von der Hautklinik. Das waren Schlüsselerlebnisse, die mich tief bewegten und schon damals klarstellten, dass diese Behandlungsweise falsch war. Ich war seitdem beseelt von dem Wunsch, es besser zu machen.

 

Der Traum von einem idealen Krankenhaus

1989, am Ende meiner Weiterbildung, ließ ich mich auf der Insel Fehmarn nieder. Fünf Jahre später gründete ich auf dem ehemaligen Gutshof „Bellevue“ die gleichnamige „Fachklinik für Ganzheitsmedizin Hof Bellevue“. Vom Landesverband der IKK Schleswig-Holstein, der federführend für die übrigen gesetzlichen Krankenkassen mit mir verhandelte, wurde ich mit einer klinischen Erprobung gemäß § 63 SGB V beauftragt. Es sollte eine zukunftsweisende Versorgung und Behandlungsweise für Erkrankungen des atopischen Formenkreises erprobt werden. Eine Verlaufsstudie des Medizinischen Dienstes Schleswig-Holstein (MDK-SH) sollte die Effekte untersuchen.

 

Ein Journalist schrieb damals: „Am Ende einer Pflastersteinallee mit haushohen Birken und einem großen kiesbedeckten Hof sieht man ein weißes Herrenhaus, hufeisenförmig flankiert von mehreren eineinhalbgeschossigen Häusern mit giebelbesetzten Dächern. An die Hofanlage grenzt ein Park mit jahrhundertealten Bäumen. Tauben gurren, irgendwo gackern Hühner und wiehert ein Pferd. Vor den Häusern sitzen junge Frauen mit ihren Babies, daneben räkelt sich eine Katze, rund ein Hund streicht schwanzwedelnd um die Tische. Nirgendwo ist ein Hinweis auf eine Allergiker-Klinik!“

 

Fachklinik für Ganzheitsmedizin Hof Bellevue

 

Die Klinik bot tatsächlich das Ambiente eines Ferienhofes. Das Restaurant »Entenfang«, die »Spielscheune«, der Reitstall und der weitläufige, fünf Hektar große Park mit mehreren Teichen und kilometerlangen Wegen waren ein Paradies für Hunderte Tiere, Ponys, Ziegen, Schafe, Gänse, Enten, Hühner und Kaninchen, die in Eintracht mit Wildgänsen, Fasanen und Rehen lebten.

 

Für die Versorgung und Behandlung standen circa 50 Mitarbeiter:innen, u.a. Ärzt:innen, Psycholog:innen, Sozialpädag:innen, Ökotropholog:innen, Krankenpfleger:innen, Erzieher:innen (m,w,d) und viele mehr zur Verfügung.

 

Das Behandlungskonzept

Ich kann nicht behaupten, dass wir nur nebenbei homöopathische Behandlungen, kinesiologische Verfahren, Akupunktur und Akupressur angeboten hätten. Vor allem die Homöopathie hatte in meinem damaligen »ganzheitsmedizinischen Konzept« eine überragende Bedeutung. Bei uns arbeiteten ausgewiesene Kapazitäten wie Dr. Michael Kröger, Dr. Martin Schmitz, Frau Dr. Almuth Brandl oder Frau Dr. Ute Heppelmann. Dr. Schmitz war Mitautor eines Standardwerks für Homöopathie, und ich hielt zu dieser Zeit an der Universitäts-Klinik Kiel Vorlesungen über die Homöopathie und war Autor eines Buches über die homöopathische Behandlung von Säuglingen und Kleinkindern. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass die Eltern nur wegen der Homöopathie zu uns kamen.

 

Wir behandelten in der Überzeugung, dass chronische Krankheiten eigentlich nur auf dem Weg einer konstitutionellen homöopathischen Behandlung geheilt werden können, und waren von der Gewissheit beseelt, dass allein das richtig gewählte homöopathische Arzneimittel in der Lage ist, eine zugrundeliegende Veranlagung zur Atopie zu überwinden. Genau genommen handelt es sich bei der Klassischen Homöopathie um ein psychoanalytisches Kurzverfahren.

 

Im Rahmen der Akutbehandlung praktizierten wir die so genannte „Naturwissenschaftlich-kritische Homöopathie“, bei der man sich auf symptombezogene niedrige Potenzen bestimmter Substanzen beschränkte, die entsprechend den Arzneimittelprüfungen für umschriebene Symptome geeignet erschienen. Mit dieser Behandlungsweise verzeichneten wir bei der leichten AD und akuten ihren Schüben oft erstaunliche Besserungen. Tatsächlich handelte es sich bei dieser Form der Homöopathie um eine symptomatische medikamentöse Behandlung, d. h., eine symptomunterdrückende und nicht um eine kausal heilende Behandlung. Das war im Grunde genommen bei allen komplementärmedizinischen Verfahren der Fall.

 

Einen hohen Stellenwert hatte die Ernährungsmedizin. Im Vordergrund standen jetzt aber nicht mehr das Aufspüren vermeintlicher Unverträglichkeiten mit komplizierten Diäten, sondern die Begrenzung der Diagnostik auf wissenschaftlich anerkannte Verfahren und der Verzicht auf unnötige Diäten. Für die eindeutigen, per Bluttest, Pricktest und eventuell durch Provokation nachgewiesenen Nahrungsmittelallergien erprobten wir Desensibilisierungen mit entsprechend präparierten Placebo-Globuli.

 

Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der systemischen Familientherapie, die unsere Sozialpädagoginnen in der »klassischen« Form der Familienaufstellung nach Bert Hellinger praktizierten. Der Familienaufstellung lag die Idee zugrunde, dass alle Mitglieder einer Familie durch emotionale Bande miteinander verknüpft sind. Sind diese Verbindungen gestört – zum Beispiel, wenn ein Kind seine Eltern hasst oder wenn der Kontakt zwischen Familienmitgliedern abreißt –, kann dies zu psychischen Problemen oder Krankheiten bei einem oder mehreren Mitgliedern der Familie führen. Die Eltern unserer Patienten schätzten dieses Therapieverfahren, und es gab Familien, die nur deshalb zu uns kamen. Die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) distanzierte sich 2003 von Bert Hellingers Vorgehensweise.

 

Vervollständigt wurde das Konzept durch das Therapeutische Reiten, die Tier-, Kunst- und Musiktherapie. Eine Theater- und Musik-AG und die Kognitive Therapie rundeten das komplementärmedizinische Konzept ab, das damals in Patientenkreisen als beispiellos galt. So wurden in einem klinikeigenen Hörsaal am Vormittag Vorträge und Seminare gehalten, die aufgezeichnet wurden und am Abend am Fernsehbildschirm bei Bedarf noch einmal angesehen oder nachgeholt werden konnten. Eine Bücherei mit hunderten Sachbüchern, Kinderbüchern und belletristischer Literatur war Tag und Nacht zugänglich.

 

Das Ergebnis der MDK – Studie

Die Verlaufsstudie endete für uns nicht unerwartet mit einem positiven Ergebnis: Zusammenfassend meinte der MDK Schleswig-Holstein: »Die Bewertung durch die ehemaligen Patienten ein Jahr nach der Behandlung ist geprägt durch insgesamt positive Rückäußerung. Das Ziel des Modellversuchs, ein erhöhtes Maß an Selbstständigkeit im Umgang mit der chronischen Erkrankung zu erreichen, wurde nach Angaben der überwiegenden Anzahl der Betroffenen erreicht. Das Konzept findet hohe Akzeptanz durch die Patienten und bewirkt subjektiv empfundene, bemerkenswerte Behandlungserfolge. Positive Auswirkungen im Sinne einer kostendämpfenden Wirksamkeit sind zu erwarten.« Allerdings machte der Landesverband der gesetzlichen Krankenkassen darauf aufmerksam, dass dieses aufwendige Konzept für eine flächendeckende Versorgung nicht in Frage komme.

 

Die entscheidenden Erkenntnisse

Inzwischen war ich aber auch zu Einsicht gekommen, dass diese Art der Versorgung bei den meisten Familien zwar zur Besserung ihrer Beschwerden beigetragen hat, bei schwer neurodermitiskranken Kindern aber zu keiner Besserung geführt. Wir hatten einen schwer neurodermitiskranken dreijährigen Jungen und dessen Vater stationär aufgenommen. Hatten wir bei anderen Kindern mit leichter bis mittelschwerer Neurodermitis gewisse Besserung verzeichnet, änderte sich bei Robert nichts. Im Gegenteil, der konzentrierte Einsatz unserer Behandlungen verschlimmerte den Zustand des Kleinen sichtlich. Nicht nur diese Familie, sondern auch andere hatten uns aber auf Eigentümlichkeiten dieser Familien mit neurodermitiskranken Kindern aufmerksam gemacht.

 

Zusammenfassung

In etwa zeitgleich mit der Gründung der „Grünen“ anfangs der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts suchten nicht nur die Eltern kranker Kinder nach Alternativen zur „Schulmedizin“, sondern auch viele junge Ärzte/innen und Therapeuten/innen. Die medikamentöse und apparative Überversorgung sowie fortschreitende Kommerzialisierung führten zur Entwicklung einer Parallelmedizin. Im Gegensatz zu Heilpraktikern, die oft auch nachweislich unwirksame Methoden praktizierten, neigten sie zur Psychosomatischen -, Umwelt- und Ernährungsmedizin, Naturheilverfahren und zu traditionsreichen Verfahren wie zur Klassischen Homöopathie oder zur Traditionellen Chinesischen Medizin. Entsprechende Fortbildungen wurden von den Landesärztekammern angeboten. Die Entwicklung eines klinischen Konzepts war eigentlich eine logische Konsequenz. Das Bellevue-Konzept erlangte bundesweites Ansehen, und die Klinik hatte geradezu eine Sogwirkung auf junge Ärztinnen und Ärzte sowie alle Therapierichtungen. Beginnende Reformen im Gesundheitswesen und eine neue Generation von Managern in den Chefetagen der Krankenkassen ließen kostenintensiven Verfahren keine Chance, selbst wenn mittelfristige Kosteneinsparungen möglich erschienen.

 

Der entscheidende Fortschritt in der Suche nach dem richtigen Weg bestand in der Empirie. Wir erkannten den zunehmenden Sensibilismus in den westlichen Wohlstandsgesellschaften und dessen Auswirkungen.