Die Neurobiologie der Sensorischen Verarbeitungsempfindlichkeit (Sensory Processing Sensitivity)

Die Sensorische Verarbeitungsempfindlichkeit (Sensory Processing Sensitivity, kurz SPS) ist eine unbewusste, überempfindliche Wahrnehmung, Verarbeitung und Bewertung aller Sinnesempfindungen durch das menschliche Zwischenhirn. Die dabei entstehenden unbewussten Emotionen dienen nicht mehr der Lebenserhaltung, sondern sind ein Ausdruck der nervösen Überempfindlichkeit.

 

Die ergebnislosen Anpassungs- und Stressreaktionen

Die beiden Anteile des Vegetativen Nervensystems, die Anpassung und die Stressreaktion, laufen aufgrund der überempfindlichen Wahrnehmung ständig an der Leistungsgrenze. Beide führen dennoch nie zu einer befriedigenden Anpassung bzw. zur Überwindung der vermeintlichen Gefahrensituation und zur Entspannung, weil aus der Sicht des Hochsensiblen alles so bleibt, wie es ist - erregend. Wenn die Stressreaktion im ersten Anlauf nicht zum Erfolg führt, was beim hochsensiblen Menschen immer der Fall ist, wird die Stressreaktion mit der zweiten Stufe, d. h. der Ausschüttung von Cortisol, fortgesetzt. Bei der SPS führen diese Versuche nie zur Stabilisierung, sondern im Gegenteil zur Steigerung der Überempfindlichkeit.

 

Ergebnislose vegetative Anpassungsversuche führen zu einer ständigen nervösen Überempfindlichkeit, Unruhe und Schlafstörungen. Die endlosen Stressreaktionen erfordern einen beträchtlichen Energieaufwand, der zur Erschöpfung und zur Entwicklung psychischer Störungen und Krankheiten führen muss. Am Ende einer sensitiven Krise kommt es nicht selten zu schweren mentalen und Bewusstseinsstörungen, die eine kognitive Auseinandersetzung selbst mit der objektiven Realität (Laborwerte, bildgebende Verfahren) unmöglich machen.

 

Das überempfindliche Limbische System

Die unbewussten Emotionen des Limbischen Systems, vor allem die Angst, sind bei Menschen mit überreizter sensorischer Wahrnehmungsempfindlichkeit stark erhöht. Im Furchtzentrum der Amygdala werden Fehlalarme ausgelöst, die auf dem kurzen Weg des Angst-Zyklus sofort zu Stressreaktionen des VS führen. Der kurze Weg des Angstzyklus hat auch eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der Allergien.

 

Spontane Reize und die unbewussten Reflexe

Das Nervensystem und die Haut bilden eine Einheit; beide entwickeln sich im Verlauf der Schwangerschaft aus dem dritten Keimblatt, dem Ektoderm. Die Haut ist also biologisch betrachtet ein Sinnesorgan. Plötzliche und kurzdauernde, auch freudige Erregungen breiten sich innerhalb dieses Systems innerhalb von Millisekunden aus und führen zu Juckreiz. Das Vegetative Nervensystem ist daran nicht beteiligt, sondern das unbewusste motorische Zentrum im Zwischenhirn und das Periphere Nervensystem (PNS). Dieses System führt reflexartig zu Kratzbewegungen. Dieser Reflex funktioniert auch beim gesunden Menschen. Wenn sich beispielsweise eine Stechmücke auf unserem Bein setzt, kommt es auf demselben Weg zu einer reflexartigen Abwehr.

 

Der Juckreiz-Kratz-Zyklus

 

Woher kommen die vielen Allergien?

Die IgE-vermittelte allergische Sofortreaktion

Patienten mit Erkrankungen des atopischen Formenkreises leiden mehrheitlich unter sogenannten IgE (Immunglobulin E) – vermittelten Allergien, einer überschießenden krankhaften Abwehrreaktion des Immunsystems auf bestimmte normalerweise harmlose Umweltstoffe (Allergene). Diese Reaktion beginnt mit vermehrter Produktion von IgE-Antikörpern nach einem ersten Allergen-Kontakt. Das Allergen wird überempfindlich als vermeintlicher Feind erkannt, der zukünftig bekämpft werden soll.

 

Beim zweiten Kontakt greifen die IgE-Antikörper die eingedrungenen Allergene und transportieren sie zu der inzwischen mit Histamin angefüllten Mastzelle. Diese schüttet jetzt Histamin aus, um die vermeintlichen Angreifer zu vernichten. Die allergische Reaktion richtet sich gegen von außen einwirkende, meistens völlig harmlose Stoffe und Partikel, die irrtümlicherweise als gefährlich ausgemacht wurden. Dieser Irrtum beruht offensichtlich auf der erhöhten Sensibilität des Atopikers. Dieser Fehlalarm wird im Furchtzentrum des Zwischenhirns ausgelöst.

 

Die IgE-vermittelte Allergie des Sofort-Typs

 

Man unterscheidet verschiedene Allergie-Typen:

 

  • Typ I: Sofortreaktion. Allergien sind Überempfindlichkeitsreaktionen gegen exogene Stoffe, die eine asymptomatische Sensibilisierungsphase voraussetzen.
  • Typ II: Zytotoxischer Typ
  • Typ III: Immunkomplex Typ
  • Typ IV: zellvermittelte Spättypallergie Typ

Für uns ist der häufigste Typ 1 bedeutsam, bei dem Immunglobulin IgE erhöht ist. Man unterscheidet das spezifische IgE, das sich gegen ein bestimmtes Allergen richtet, vom Gesamt-IgE, der Summe aus allen spezifischen IgEs. Die Schwere einer Allergie wird an der altersabhängigen Höhe des Gesamt-IgE und an den CAP-Klassen 1 bis 6 unterschieden.

 

Die Allergie entsteht im Kopf

Der US-amerikanische Philosoph William James (1842–1910) meinte: „Man flieht nicht, weil man Angst hat, sondern man hat Angst, weil man flieht.“ Übertragen auf die Allergie bedeutet das: In dem Maß, wie man vermeidet, steigt die allergische Reaktionsbereitschaft. Tatsächlich sind mehr oder weniger realitätsfremde Vermeidungsempfehlungen in allen fachärztlichen Therapieempfehlungen wesentlicher Teil der medizinischen Leitlinien. Der Fehlalarm wird geradezu erlernt.

 

Zusammenfassung

Bei der Sensorischen Verarbeitungsempfindlichkeit reagieren die Strukturen im Zwischenhirn um ein Vielfaches empfindlicher, sodass es häufig zu Fehlalarmen und zu unnötigen vegetativen Stressreaktionen und Anpassungsversuchen kommt, die auf die Dauer zur Erschöpfung und zur Entwicklung der Atopie und psychischer Störungen führen.

 

Neben den länger dauernden Anpassungsstörungen und Stressreaktionen kann es aufgrund der entwicklungsgeschichtlichen Verwandtschaft zwischen Haut und Nervensystem jederzeit zur spontanen Ausbreitung der nervösen Erregung kommen. Kleinste emotionale Erregungen können reflexartig einen Juckreiz-Kratz-Zyklus auslösen.

 

Der Mensch verfügt mit dem Zwischenhirn über einen entwicklungsgeschichtlich älteren Gehirnanteil, der exakt dem Säugetiergehirn entspricht. Beim Säugetier ist es die oberste Instanz, die das Verhalten des Tieres steuert. Die Strukturen im Zwischenhirn sind zwar funktionstüchtig, für das menschliche Bewusstsein aber nicht zugänglich. Im Vergleich zum Säugetier konkurrieren die Funktionen zahlreicher Strukturen im Zwischenhirn beim Menschen mit den Großhirnfunktionen, vor allem im Frontalhirn, dem Kontrollzentrum für das Verhalten. Das Limbische System hat aber einen sehr viel größeren Einfluss auf unser Denken und Handeln, als wir glauben. Das Limbische System agiert weitestgehend autonom und sorgt über das Vegetative Nervensystem (VS) nicht nur für die ständige Anpassung des Gesamtorganismus an jede Veränderung, sondern auch für die Abwehr drohender Gefahren. Dabei spielen die unbewussten Emotionen, vor allem die Angst, eine entscheidende Rolle. Das Furchtzentrum in der Amygdala steuert den Angstzyklus und entscheidet über den kurzen oder langen Weg.

 

50 Prozent der Deutschen leiden im Verlauf des Lebens mindestens unter einer Allergie. Der Verlauf der sogenannten IgE-vermittelten Allergie ist bis ins kleinste Detail bekannt. Anders als bislang angenommen, ist die Allergie ursprünglich keine genetische Veranlagung, sondern das Ergebnis der zunehmenden Sensorischen Verarbeitungsempfindlichkeit. Wenn es zur Allergie kommt, kann sie allerdings mit einiger Wahrscheinlichkeit vererbt werden. Man sollte jedoch nicht von einer primär genetischen Krankheit ausgehen. Die ängstliche Vermeidung der Allergene steigert die Reaktionsbereitschaft. Die möglichst frühzeitige stufenweise Auseinandersetzung mit den Allergenen führt zur Auflösung der Allergie.