Das Zeitalter der Empfindsamkeit und der Reformen

Wenn die Menschen auf ihre Fragen keine glaubhaften Antworten erhalten und nichts mehr vorhersehbar erscheint, ziehen sie sich mehr und mehr auf die Gefühlsebene zurück. Hin- und hergerissen zwischen Empfindsamkeit und Empfindlichkeit, Anspruch und Wirklichkeit, Hoffnung und Ängstlichkeit, steigt das Risiko für die Entwicklung von Krankheiten und psychischen Störungen.

 

Die Empfindsamkeit und die Empfindlichkeit sind inzwischen messbare Entitäten, die mit geradezu seismografischer Präzision Hinweise auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen erlauben so, wie die Klimadaten Vorhersagen auf den Klimawandel ermöglichen. Schätzungsweise 40 % der Menschen in den Wohlstandsgesellschaften mit freiheitlicher demokratischer Grundordnung sind inzwischen messbar hochsensitiv veranlagt.

 

Diese Persönlichkeiten wurden schon vor 100 Jahren beschrieben, beispielsweise von 1918 von den Psychiater Ernst Kretschmer in seinem Buch Der Beziehungswahn. Die dramatischen sozialen und ökologischen Veränderungen vor und nach den beiden Weltkriegen sensibilisierten immer mehr Menschen für die Hinweis auf bedrohliche Fehlentwicklungen.

"Make love not war"

Es waren Jugendliche der US-amerikanischen Mittelschicht, die sich in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gegen die sinnentleerte Konsumgesellschaft und Umweltzerstörung auflehnten und ein Leben im Einklang mit der Natur forderten. Unter dem Motto „Make love, not war“ protestierten sie gewaltlos gegen das sinnlose Blutvergießen im Vietnamkrieg. Als Höhepunkt gilt der Summer of Love, der in San Francisco im Januar 1967 begann und bewirkte, Menschen aus allen Gegenkulturen zu versammeln: Bürgerrechtler, Feministinnen, Studenten und Künstler.

"Das Ziel der Hippies war eine antiautoritäre und enthierarchisierte Welt- und Wertordnung ohne Klassenunterschiede, Leistungsnormen, Unterdrückung, Grausamkeit und Kriege."

Walter Hollstein 1983  Die Gegengesellschaft 

 Als sich 1969 Hunderttausende in Bethel bei New York versammelten, wo 32 Folk- und Rock-Bands vier Tage und Nächte auftraten, hatten die Blumenkinder, von der Kommerzialisierung ihrer Ideen angewidert, ihre Bewegung bereits für beendet erklärt. Woodstock, noch heute ein Mythos des „anderen Amerikas“, des künstlerischen und friedliebenden Amerikas, das gegen den umstrittenen Vietnamkrieg protestierte, war tatsächlich nur der erste Höhepunkt der Kommerzialisierung dieser Vision.

 

Spätestens mit dem Musical Hair verkam die Hippie-Ära zur Klischeevorstellung, die von den Jugendlichen weltweit übernommen und von der Industrie erfolgreich vermarktet wurde. Es entstand eine Massenkultur, die jeder so verstehen und für sich in Anspruch nehmen konnte, wie es seinen Wünschen und Sehnsüchten entsprach. Die gesamte bürgerliche Werteordnung wurde in Frage gestellt: Tugenden wie Leistungsbereitschaft, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft und Disziplin galten als dekadent. Die Pille ermöglichte die völlige Enttabuisierung der Sexualität, und man mied Begriffe wie Liebe, Treue und Vertrauen. Dagegen galt: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“. Die Fehlinterpretation der Hippie-Ideale konnte vollständiger nicht sein. Die Visionen von einer besseren Welt versanken in psychedelischer Musik, nächtelangen, nikotin- und alkoholschwangeren Diskussionen über die Wege zur Selbstverwirklichung und endeten häufig im LSD-Rausch. Die Exzesse in der Endphase der Hippie-Ära drückten der Bewegung einen Stempel auf, den sie vor allem in konservativen und kirchlichen Kreisen für immer behalten sollte.