Die Neuro-Dermatitis

Wenn die Nächte zum Albtraum werden

Ihre Gesichter sind stigmatisiert: Die traurig-müden Augen, ihre verschwollen-faltigen, fast wimpernlosen Lider, die spärlichen Augenbrauen und die rötlich-schuppige Mundpartie mit den trocken-rissigen Lippen. Die Patienten, klein oder groß, sind für jedermann erkennbar krank. Während der Kratzanfälle scheinen sie wie von Sinnen, so dass man sie in die Nähe von „Nervenkranken“ gerückt hat. Unverdrossen setzen die Hautärzte auf Cortisonrezepturen und Vermeidung, obwohl die Armen hinterher oft schlimmer aussehen als zuvor. Nicht selten mutieren die betroffenen Familien zu Asketen, schlafen im Familienbett, stillen ihre Kinder jahrelang und quälen sich und die Kleinen mit unnützen Diäten, haben ihnen das Stofftier entwendet, den Hund und die Katze verschenkt. Wenn alle Therapien und Einschränkungen nichts geholfen haben, was mehrheitlich der Fall ist, gehen sie zu selbst ernannten Heilern. Verzweifelt lassen sie die Kleinen Vitamine, Spurenelemente und dutzende Arten von Globuli schlucken, das eigene Blut trinken und baden sie in ihrer Pippi.

 

Unterdessen zeigt sich eine neue Generation von „Atopikern“, die alles bisher Dagewesene übertrifft: Säuglinge mit höchstgradigen Allergien gegen alles, was für die bedarfsgerechte Ernährung unverzichtbar ist. Jeder Versuch eines Nahrungsaufbaus scheitert, selbst Muttermilch erbrechen sie. Wenn sich die Kleinen im Elternbett schreiend blutig kratzen, werden die Nächte zum Albtraum. Die Therapien und Ratschläge der Kinderärzte ändern daran nichts. In lebensbedrohlichem Zustand, halb verhungert und verdurstet werden die Kleinen oft viel zu spät ins Krankenhaus gebracht, wo sie in die Obhut von Dermatologen geraten, die sie von Kopf bis Fuß in Verbände wickeln und sie mit Cortison, Antibiotika und Antiallergika kurzzeitig ruhig stellen. Viele dieser Kinder werden nie einen normalen Kindergarten oder eine Regelschule besuchen können und Dauerpatienten eines inkompetenten Gesundheitswesens werden.

 

Historisches

Die Bezeichnung Neurodermitis geht auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Damals meinte man, die Ursache der Hauterkrankung sei eine Nervenentzündung. Auch wenn es sich nicht um eine Entzündung der Hautnerven, sondern um nervöse Überempfindlichkeit handelt, scheint die Bezeichnung Neurodermitis durchaus treffend. Weitere geläufige Bezeichnungen sind atopische Dermatitis und endogenes Ekzem (lat. Lichen simplex chronicus). Außerdem wird die Erkrankung auch als chronisch konstitutionelles Ekzem, Asthmaekzem und Prurigo Besnier bezeichnet. In Deutschland ist die Bezeichnung Neurodermitis am geläufigsten, weswegen sie auch im medizinischen Bereich beibehalten blieb. Am treffendsten ist allerdings die Bezeichnung atopische Dermatitis. Sie gilt als eine Erkrankung des atopischen Formenkreises, zu denen auch das Asthma bronchiale und der Heuschnupfen zählen. Die Wortneuschöpfung Atopie stammt von dem US-amerikanischen Allergologen Coke (1921). Er hatte es aus dem Altgriechischen Wort ατοπία, atopía, abgeleitet, worunter man „Ortlosigkeit“, „nicht zuzuordnen“ versteht.

 

Die vergebliche Suche nach der Ursache

Als der ungarisch-kanadische Arzt Hans Seyle 1940 die Stressreaktion entdeckt hatte, begann die Suche nach den Stressfaktoren. Man sprach jetzt von stressabhängigen Krankheiten. Die Suche nach ursächlichen Stressfaktoren zog sich wie ein roter Faden durch 75 Jahre Forschung. Dutzende Untersuchungen befassten sich mit den Zusammenhängen zwischen Stressfaktoren und der Entwicklung und Aufrechterhaltung der Neurodermitis: den Auswirkungen akuter Stressbelastungen, Lebensereignissen, den Elternpersönlichkeiten, Persönlichkeitsfaktoren und psychischen Krankheiten. Es wurde nie ein Stressfaktor gefunden, den man als Ursache der Neurodermitis verantwortlich machen konnte. Seit einer abschließenden internationalen Studie von Dalgard und 22 Co-Autoren im Jahr 2015 gilt die Neurodermitis als genetische Hautkrankheit, die sich unter Stress verschlechtern.

 

Das Diathese-Stress-Modell

 

Die Psychosomatische Medizin ging von stressassoziierten Krankheiten aus, deren Entwicklung mit dem so genannten Diathese-Stress-Modell erklärt wird. Man verstand darunter eine genetisch (biologisch) oder auch lerngeschichtlich (psycho-sozial) bedingte Veranlagung eines Menschen, die unter Einwirkung von Stressoren reagiert, wobei Stressoren belastende Umweltereignisse oder Lebenssituationen darstellen. Wenn die Belastungen (Disposition und Stressoren) zu groß waren und eine gewisse Schwelle überschritten wurde, kam es zur Symptombildung bzw. zur Krankheitsentwicklung.

 

Das Modell ist weit davon entfernt, eine umfassende Begründung zu liefern, und erklärt die Entwicklung der Neurodermitis nicht. Es wird weder eine Aussage über die Gewichtung der einzelnen Faktoren getroffen, noch existiert eine Darstellung, wie die einzelnen Faktoren miteinander interagieren. Für Wittchen, den ehemaligen Direktor des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der TU Dresden, "ist die Art von Stress weniger für die Auslösung der Stressreaktion verantwortlich als der individuell unterschiedliche Verarbeitungs- und Bewertungsprozess und der Anpassungsaufwand. Verwundbarkeit (Empfindlichkeit oder 'Dünnhäutigkeit') kann zum Auftreten einer Psychose in Kombination mit stressbehafteten lebensgeschichtlichen Prozessen, situativ-sozialem oder körperlich-hormonellem Stress führen."

 

Die Neurodermitis ist keine Hautkrankheit

Die Neurodermitis hat mit einem Anteil von 12 % den Häufigkeitsgipfel in den ersten beiden Lebensjahren. In Deutschland werden jährlich 120 000 Kinder mit Merkmalen der atopischen Dermatitis geboren, Bei ungefähr 60 % handelt es sich um eine subakute, d. h. primär harmlose Form, die ohne Behandlung folgenlos abklingt. 40 % der Neugeboren kommen inzwischen mit den Symptomen einer tendenziell chronischen Übergangsform oder mit dem Bild einer schweren entzündlichen Hautkrankheit auf die Welt, die sie ohne eine wirksame Behandlung nicht überleben würden. Die AWMF - Leitlinie Neurodermitis geht deshalb von der Annahme aus, es handle sich um eine Hautkrankheit mit altersentsprechender Ausprägung. 

 

Tatsächlich handelt es sich um eine iatrogene, d. h. von Ärzten seit Jahrzehnten durch falsche Behandlung herbeigeführte Krankheit. Die so genannte Neurodermitis entwickelt sich, wenn bei der primär sensitiven Verlaufsform, subakut oder schwer, die ursächliche Bedeutung der unbewussten Emotionen vernachlässigt wird und die Symptome allein medikamentös unterdrückt werden. Wenn diese sensitiven Menschen zusätzlich zur Vermeidung vermeintlicher Trigger aufgefordert werden, steigert das ihre Ängste und damit ihre Sensitivität und ihre reaktive Krankheit. Den Betroffenen helfen keine Medikamente, sondern allein die wirksame Hyposensibilisierung, d. h. die kognitive Auseinandersetzung mit den ursächlichen Zusammenhängen. Die differenzierte Betrachtung dieser Erkrankung ist für eine erfolgreiche Behandlung unverzichtbar. Das ist nur nach einer vollständigen und korrekten Diagnostik möglich. Ich setze das Atopie-Screening ein, mit dem man das Ausmaß der Atopie erfassen kann. Sie erlaubt eine eindeutige Differenzierung von zwei grundsätzlich verschiedenen Verlaufsformen mit unterschiedlichem Behandlungsbedarf und entsprechend stark voneinander abweichender Prognose. Der grundsätzliche Fehler der Dermatologie besteht darin, dass sie diese Hintergründe völlig außer Acht lässt.