Grundlagen


Der folgenschwerste Irrtum der Menschheitsgeschichte

René Descartes (1596-1650) gilt als Begründer der modernen Philosophie und als Wegbereiter der "Aufklärung". Der Legende nach träumte Descartes, dass es „eine universale Methode zur Erforschung der Wahrheit geben müsse und dass er dazu berufen sei, das Buch der Wahrheit“ zu schreiben. Kern seiner Theorie: Der Mensch besteht aus zwei voneinander unabhängigen Substanzen, der nichtstofflichen Seele und dem stofflichen Körper. Die Seele interagiere zwar mit dem Körper, sei aber allein in der Lage, die Wahrheit zu erkennen, während sich die körperlichen Gefühle irren können. Und der Mensch allein, sei kraft seiner Vernunft in der Lage, die Natur nicht nur wissenschaftlich zu erforschen, sondern sie auch zu beherrschen.


Das Zeitalter der Empfindsamkeit und der Reformen

Wenn die Menschen auf ihre Fragen keine glaubhaften Antworten erhalten und nichts mehr vorhersehbar erscheint, ziehen sie sich mehr und mehr auf die Gefühlsebene zurück. Hin- und hergerissen zwischen Empfindsamkeit und Empfindlichkeit, Anspruch und Wirklichkeit, Hoffnung und Ängstlichkeit, steigt das Risiko für die Entwicklung von Krankheiten und psychischen Störungen.

 

Die Empfindsamkeit und die Empfindlichkeit sind inzwischen messbare Entitäten, die mit geradezu seismografischer Präzision Hinweise auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen erlauben, so wie die Klimadaten Vorhersagen auf den Klimawandel ermöglichen. Die dramatischen sozialen und ökologischen Veränderungen sind die wirkstärksten Faktoren der Evolution, beide liegen im tiefroten Bereich. Wie konnte es so weit kommen? Dieses Irrtums mildern sollte.


Die modernen Volkskrankheiten

Den Ärzten der Kinder-Fachklinik Bellevue, die ich zwischen 1995 und 2012 auf der Ostseeinsel Fehmarn leitete, war über viele Jahre das eigentümliche Verhalten der Eltern neurodermitiskranker Kinder aufgefallen: Empfindsam und außergewöhnlich beeindruckbar, ständig ängstlich besorgt, ließen sie kein Auge von ihren Kindern. Auffällig war auch die sofortige Zuwendung bei der geringsten Regung, der ständige Körperkontakt und die Angewohnheit, die Kinder zu tragen. Auch das mitunter exzessiv gehäufte und verlängerte Stillen und das gemeinsame Schlafen im Elternbett waren typische Verhaltensweisen.


Die Neuro-Dermatitis

Ihre Gesichter sind stigmatisiert: Die traurig-müden Augen, ihre verschwollen-faltigen, fast wimpernlosen Lider, die spärlichen Augenbrauen und die rötlich-schuppige Mundpartie mit den trocken-rissigen Lippen. Die Patienten, klein oder groß, sind für jedermann erkennbar krank. Während der Kratzanfälle scheinen sie wie von Sinnen, so dass man sie in die Nähe von „Nervenkranken“ gerückt hat. Unverdrossen setzen die Hautärzte auf Cortisonrezepturen und Vermeidung, obwohl die Armen hinterher oft schlimmer aussehen als zuvor. Nicht selten mutieren die betroffenen Familien zu Asketen, schlafen im Familienbett, stillen ihre Kinder jahrelang und quälen sich und die Kleinen mit unnützen Diäten, haben ihnen das Stofftier entwendet, den Hund und die Katze verschenkt. Wenn alle Therapien und Einschränkungen nichts geholfen haben, was mehrheitlich der Fall ist, gehen sie zu selbst ernannten Heilern. Verzweifelt lassen sie die Kleinen Vitamine, Spurenelemente und dutzende Arten von Globuli schlucken, das eigene Blut trinken und baden sie in ihrem Urin.


Es gibt keine einheitliche Hautkrankheit Neurodermitis

Die so genannte Neurodermitis entwickelt sich, wenn bei der primär sensitiven Verlaufsform die Bedeutung der unbewussten Emotionen vernachlässigt wird und die Symptome medikamentös unterdrückt werden, während die Betroffenen mit unnötigen Vermeidungsempfehlungen verängstigt werden. Eine differenzierte Betrachtung dieser Erkrankung ist für eine erfolgreiche Behandlung unverzichtbar. Dies ist nur nach einer vollständigen und korrekten Diagnostik möglich. Ich setze das Atopie-Screening ein, mit dem man das Ausmaß der Atopie erfassen kann. Es erlaubt eine eindeutige Differenzierung von zwei grundsätzlich verschiedenen Verlaufsformen mit unterschiedlichem Behandlungsbedarf und entsprechend stark voneinander abweichender Prognose.


Die Haut und ihre Atopie

Zahlreiche Metaphern wie "vor Scham erröten" und "Schreckensbleiche" sprechen für diesen Zusammenhang. Auch biologisch betrachtet ist diese Verbindung nachweisbar. In der Natur finden wir alle Entwicklungsstufen dieser Verwandtschaft, in der ursprünglichsten Form beim Einzeller. Dessen Hülle ist wie die Haut des Menschen ein Multifunktionsorgan. Sie ist an allen lebenserhaltenden Vorgängen beteiligt. Der Unterschied besteht darin, dass die Membran des Einzellers sein Nervensystem ist und sogar Kontroll- und Steuerungsfunktionen hat. Die Haut des Menschen besitzt zwar noch die Eigenregulationsfähigkeit und ist auch als Sinnesorgan an der sensorischen Wahrnehmung des Gehirns beteiligt, unterliegt jedoch der Steuerung und Anpassung durch das zentrale Nervensystem.


Die Ära der ergänzenden Behandlungsverfahren

Im dritten Obergeschoss des Akademischen Lehrkrankenhauses, in dem ich meine Weiterbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin absolvierte, befand sich die Isolierstation. Dort lagen Kinder mit ansteckungsfähigen Krankheiten und Kleinstkinder mit Neurodermitis. Diese waren entweder von Kopf bis Fuß in Verbände gehüllt oder man hatte ihnen Papphülsen über die Ärmchen und Beinchen geschoben, um sie am Kratzen zu hindern. Manche waren an allen vier Gliedmaßen am Bett fixiert. Diese Kleinen lagen stundenlang schreiend in ihren Betten. Es war grausam anzusehen. Für die Behandlung war nicht ich zuständig, sondern die Kollegen von der Hautklinik. Das waren Schlüsselerlebnisse, die mich tief bewegten und schon damals klarstellten, dass diese Behandlungsweise falsch war. Ich war seitdem beseelt von dem Wunsch, es besser zu machen.


Die Neurobiologie der Wahrnehmungen und Sinnesempfindungen

Das menschliche Gehirn besteht anatomisch aus dem Großhirn, Zwischenhirn und dem Stammhirn. Alle mit den Augen, den Ohren, der Nase, der Zunge und mit der Haut wahrgenommenen Sinnesempfindungen werden zunächst im entwicklungsgeschichtlich älteren aber voll funktionstüchtigen Zwischenhirn („Säugetiergehirn“) verarbeitet und bewertet. Dieser Teil des Gehirns ist für die unbewusste Befriedigung der überlebensnotwendigen Grundbedürfnisse, beispielsweise Fortpflanzung, Nahrungsbeschaffung und Sicherheit zuständig und verfügt über ein eigenes Gedächtnis.


Die Neurobiologie der Sensorischen Verarbeitungsempfindlichkeit (Sensory Processing Sensitivity)

Die SPS ist eine unbewusste, überempfindliche Wahrnehmung, Verarbeitung und Bewertung aller Sinnesempfindungen durch das menschliche Zwischenhirn. Die dabei entstehenden unbewussten Emotionen dienen nicht mehr der Lebenserhaltung, sondern sind ein Ausdruck der nervösen Überempfindlichkeit.

 

Die beiden Anteile des Vegetativen Nervensystems, die Anpassung und die Stressreaktion, laufen aufgrund der überempfindlichen Wahrnehmung ständig an der Leistungsgrenze. Beide führen dennoch nie zu einer befriedigenden Anpassung bzw. zur Überwindung der vermeintlichen Gefahrensituation und zur Entspannung, weil aus der Sicht des Hochsensiblen alles so bleibt, wie es ist - erregend. Wenn die Stressreaktion im ersten Anlauf nicht zum Erfolg führt, was beim hochsensiblen Menschen immer der Fall ist, wird die Stressreaktion mit der zweiten Stufe, d. h. der Ausschüttung von Cortisol, fortgesetzt. Bei der SPS führen diese Versuche nie zur Stabilisierung, sondern im Gegenteil zur Steigerung der Überempfindlichkeit.


Die bedürfnisorientierten Erziehungsstile

1972 erschien Jean Liedloffs Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit“. Was Liedloff über die Yequana-Indianer schrieb, bei denen sie jahrelang gelebt hatte, mahnte die Menschen, ihr persönliches Wohlergehen und das ihrer Kinder nicht allein vom materiellen Wohlstand und den Zwängen der Konsumgesellschaft abhängig zu machen. Liedloff verwies auf die Bedeutung von natürlichen Geburtspraktiken, elterlicher Fürsorge und körperlichem Kontakt für die gesunde Entwicklung von Kindern.


Die 7 B´s des William Sears

In den Achtzigerjahren übertrugen der amerikanische Kinderarzt William Sears und dessen Frau Martha den Umgang der Naturvölker mit ihren Neugeborenen und Säuglingen auf die amerikanische Mittelschichtsfamilie. Abgesehen von der verstaubten Bindungstheorie des J. Bowlby aus dem Jahr 1969 entbehrte das Attachment Parenting jeder wissenschaftlichen Grundlage. Im Fokus stand der Aufbau einer sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind. Merkmale dieser Erziehungsmethode sind bis heute die 7 B's: 1. Verbindung nach der Geburt (Birth bonding), 2. Stillen ad libitum (Breastfeeding), 3. Tragen (Babywearing), 4. Familienbett (Bedding close to baby), 5. Glaube an den Sprachwert von Babys Schrei (Belief in the language value of your baby’s cry), 6. Hüten Sie sich vor 'Baby-Trainern' (Beware of baby trainers), 7. Ausgeglichenheit (Balance).


Fluch und Segen der bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehungsstile

Schon früh warnten namhafte Experten vor den Folgen dieser Form der Erziehung. Horst Eberhard Richter erwarb sich schon in den Siebzigerjahren mit seinen Ausführungen über den Eltern-Kind-Konflikt weltweites Ansehen. Er erkannte bei den Eltern eine eindeutige Tendenz zum Narzissmus. Die Eltern seien davon überzeugt, dass sie mit ihrer Überbehütung ihren Kindern zum besten Start ins Leben verhelfen. Tatsächlich gingen sie zunehmend um ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Verletzungen und Verlustängste aus. „Sie wollten sich über ihre Kinder selbst verwirklichen, beziehungsweise die eigenen Verletzungen heilen“.


Highly Sensitive Person

1997 machte die US-amerikanische Psychotherapeutin Elaine N. Aron von sich reden. Ihr Buch "The Highly Sensitive Person. How to Thrive When the World Overwhelms You" erschien in Deutschland unter dem Titel „Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen“. Das Buch wurde in 80 Sprachen übersetzt und erzielte Millionenauflagen. Die Hochsensitivität beschrieb Aron als eine „offenere und subtilere Wahrnehmung sowie eine intensivere und verlängerte zentralnervöse Verarbeitung von inneren und äußeren Reizen, die auf das Bewusstsein übertragen werden“.


Die Verantwortung für das Ganze

Horst-Eberhard Richter, einer der großen Denker des 20. Jahrhunderts, Arzt, Psychoanalytiker und Sozialphilosoph erhielt neben dem Friedens-Nobelpreises zahllose internationale Ehrungen, u.a. hat ihm der Jüdische Nationalfonds 2000 für sein Lebenswerk zehn Bäume in Israel gepflanzt. Das Bundesverdienstkreuz hat Richter dreimal mit der Begründung abgelehnt, dass es zu viele Altnazis“ erhalten hätten. 

 

In einer Neuauflage seines Werkes Der Gotteskomplex beschreibt er die moderne westliche Zivilisation als psychosoziale Störung, als Flucht aus der mittelalterlichen Ohnmacht in den Anspruch auf egozentrische gottgleiche Allmacht sowie als Ausdruck des angstgetriebenen Machtwillens und der Krankheit, nicht mehr leiden zu können. Die Überwindung des Gotteskomplexes betrachtete er als Überlebensfrage der Gesellschaft und des modernen Menschen. [20] In einem weiteren, vor 20 Jahren erschienen Werk forderte Horst-Eberhard Richter“ das Ende der Egomanie“: „Die Vorstellung von einem individuellen Selbst, das in der gesamten westlichen, am ausgeprägtesten auf das amerikanische Selbst ausgeweitet hat, muss einem neuen Bewusstsein der Verantwortung für das Ganze weichen“.