Die modernen Volkskrankheiten

Seit mehr als 20 Jahren verweisen zahlreiche internationale Studien auf die Zunahme der Hochsensitivität und die damit verbundenen Risiken der Entwicklung sensitivitätsabhängiger Krankheiten. Diese SAKs haben inzwischen den Charakter von Volkskrankheiten. Ihre Häufigkeit liegt in Deutschland und in den anderen westlichen Wohlstandsgesellschaften bei 30 bis 40 Prozent. [20].  Seit Jahrzehnten werden diese Krankheiten medikamentös unterdrückt, anstatt die Betroffenen zu beraten und zu hyposensibilisieren. Die modernen Volkskrankheiten sind iatrogene, das heißt, von Ärzten durch falsche medikamentöse Behandlung herbeigeführte Krankheiten. Für die Dermatologie und die Pharmaindustrie geht es jährlich um Milliarden, für Millionen Menschen oft lebenslanges qualvolles Leid.

 

Den Ärzten der Kinder-Fachklinik Bellevue, die ich zwischen 1995 und 2012 auf der Ostseeinsel Fehmarn leitete, war über viele Jahre das eigentümliche Verhalten der Eltern neurodermitiskranker Kinder aufgefallen: Empfindsam und außergewöhnlich beeindruckbar, ständig ängstlich besorgt, ließen sie kein Auge von ihren Kindern. Auffällig war auch die sofortige Zuwendung bei der geringsten Regung, der ständige Körperkontakt und die Angewohnheit, die Kinder zu tragen. Auch das mitunter exzessiv gehäufte und verlängerte Stillen und das gemeinsame Schlafen im Elternbett waren typische Verhaltensweisen.

 

Klinik Bellevue

 

Nicht nur Ähnlichkeit mit Sears' 7 B's, sondern auch die Übereinstimmung mit Arons hochsensitiven Persönlichkeiten waren nicht zu übersehen. Im Rahmen einer Pilot-Studie gingen die Ärzte mehrere Jahre der Frage nach, ob es zwischen der Sensorischen Verarbeitungsempfindlichkeit und den Erkrankungen des atopischen Formenkreises (Neurodermitis, Asthma bronchiale und Heuschnupfen) einen Zusammenhang gibt. 64 Eltern neurodermatischer Kinder wurden einer aufwendigen Untersuchung mit drei bewährten Persönlichkeitstests und Arons HSP-Test unterzogen. Die Ergebnisse sprachen hochsignifikant für die Hypothese. Eltern, die selbst unter einer der Erkrankungen des atopischen Formenkreises litten oder gelitten haben, waren eindeutig sensitiv veranlagt. Die Analyse der HSP-Test-Ergebnisse zeigte vor allem eine hohe Signifikanz bei 19 der 27 Fragen, in denen nach Überempfindlichkeit, Überforderung und geringer Belastbarkeit gefragt wurde. Die Eltern übertrugen ihre erhöhte Responsivität, ihre Ängste und Sorgen auf die Kinder, was zur Entwicklung der Neurodermitis beitragen kann.

 

Eine weitere Untersuchung, die sich mit den erhöhten Risiken der Persönlichkeiten mit Sensory Processing Sensitivity (SPS) befasste, ging davon aus, dass diese Menschen Umweltentwicklungen früher und intensiver wahrnehmen und nach dem Prinzip der Allostase sich mit einer erhöhten Aktivität des Vegetativen Nervensystems (z. B. hypothalamo-hypophysäre Nebenrindenachse, Zytokine, Katecholamine) früher als andere, ständig an die zu regulierenden Bedingungen anzupassen versuchen. Das Risiko besteht darin, dass sich der Organismus der sensitiven Persönlichkeiten durch das anhaltend hohe Tempo der Veränderungen erschöpft (allostatische Überlastung), was letztendlich zu psychischen Störungen und atopischen Krankheiten führen muss.

 

Wir untersuchten 305 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Probanden. 175 (57 %) litten unter einer der Erkrankungen des atopischen Formenkreises, davon 71 (40,6 %) zusätzlich unter Angststörungen, Depressionen und Erschöpfungszuständen. Aber auch 41 (31,3 %) der 131 nicht atopisch veranlagten Probanden litten unter diesen psychischen Störungen. Die logistische Regressionsanalyse, mit der die gegenseitige Abhängigkeit verschiedener Variablen untersucht wird, zeigte den Einfluss der SPS. Das Risiko des Vorhandenseins atopischer Krankheiten und psychischer Störungen hing signifikant von der Höhe der OR ab. Zu atopischen Krankheiten kommt es bereits bei relativ niedrigen SPS-Werten, hohe Werte führen immer auch zu psychischen Störungen. Bei den Angststörungen wurden die höchsten SPS-Werte gefunden. Die Abhängigkeit der Erkrankungen von der Höhe der SPS zeigt, dass es sich nicht, wie bisher angenommen, um stressabhängige, sondern um sensitivität-assoziierte Krankheiten handelt. Diese Sichtweise hat in der Forschung eine weit zurückreichende Tradition. Hans Selye, der Entdecker des Allgemeinen Anpassungssyndroms, hielt es schon 1950 für möglich, dass sich Stressreaktionen auch ohne Distress entwickeln. Für Wittchen, den ehemaligen Direktor des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der TU Dresden, "ist die Art von Stress weniger für die Auslösung der Stressreaktion verantwortlich als der individuell unterschiedliche Verarbeitungs- und Bewertungsprozess und der Anpassungsaufwand.

Mehr als 60 Prozent der Deutschen sind chronisch krank. Im Gegensatz zu früheren epidemiologischen Erhebungen sind es nicht mehr die Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Verschleißkrankheiten, die Sorgen bereiten, sondern Erkrankungen, deren Ursache man nicht kennt:

 

1. Psychische Störungen

  • Angststörungen 17,4 %
  • Unipolare Depressionen 13,7 %
  • Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) 5 %
  • Erschöpfungssyndrome 3 %
  • Asperger-Syndrom, Autismus 1 %

2. Erkrankungen des atopischen Formenkreises und Allergien

  • Allergien 50 %
  • Heuschnupfen 14,8%
  • Asthma bronchiale 8,6 %
  • Kontaktekzem 8,1 %
  • Neurodermitis 3,5 %
  • Urticaria 3,5, %

3. Autoimmunerkrankungen

  • Rheumatoide Arthritis 2,6 %
  • Psoriasis 2 %
  • Colitis ulcersos + Morbus Crohn 80 / 100 000 Einwohner
  • Multiple Sklerose 240.000 in Deutschland

Eine Untersuchung von Holstiege J, für das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland über die Häufigkeit von Autoimmunerkrankungen wie Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Multiple Sklerose, Psoriasis und rheumatoide Arthritis, zeigen eine signifikante Zunahme der Erkrankungen von 2012 bis 2018 von 3,5 auf 4 Prozent. 2018 waren 2,9 Millionen Versicherte von einer dieser Autoimmunerkrankungen betroffen. Dies entspricht einem Zuwachs von etwa 500.000 Patientinnen und Patienten seit 2012.

 

Krankheit und Medizin werden über kurz oder lang in vorher nicht gekanntem Ausmaß als wirkmächtige Faktoren der Geschichte wahrgenommen.