Die Sensorische Verarbeitungsempfindlichkeit

(Sensory Processing Sensitivity = SPS)

Lange bevor wir etwas bewusst sehen, hören, riechen, schmecken oder empfinden, durchlaufen unsere Wahrnehmungen unbewusste Verarbeitungsprozesse in entwicklungs-geschichtlich älteren, aber funktionstüchtigen Teilen unseres Gehirns. Diese Anteile des Gehirns, die sich übrigens kaum von denen der Säugetiere unterscheiden, sind für die Befriedigung überlebensnotwendiger Triebe zuständig, beispielsweise Nahrungszufuhr, Sexualität oder Sicherheit. Triebwünsche äußern sich durch unbewusste Emotionen, wie Verlangen, Freude, Enttäuschung oder Angst. Der gesamte Organismus wird augenblicklich auf die jeweilige Anforderung eingestellt, sodass wir uns, sei es bei Anstrengung oder in Ruhe, stets im Gleichgewicht befinden. Das alles läuft unbewusst und ohne unser willkürliches Zutun ab. Das, was am Ende dieses Prozesses durch das „Tor zum Bewusstsein“, den Thalamus, bis zu den Assoziationszentren im Großhirn vordringt entspricht meistens nicht der Wirklichkeit, sondern dem was wir unbewusst wünschen, lieben, hassen oder fürchten.  Wie viele dieser „unterirdischen Impulse“ als Gefühle bis in unser Bewusstsein vordringen, ist individuell sehr verschieden. Betont rational denkende Menschen glauben von dem unbewussten Anteil der Sinnesempfindungen weniger beeinflusst zu werden als empfindsame und einfühlsame Menschenthink.

 


Die Mehrzahl der Neurowissenschaftler sind heute der Ansicht, dass unser Denken und Handeln überwiegend von unbewussten Empfindungen und Emotionen bestimmt werden. Einer der weltweit angesehensten Hirnforscher, der US-Amerikaner Michael Gazzaniga, geht noch weiter und meint, das Empfinden eines einheitlichen Bewusstseins, das Gefühl, selbstbestimmt zu handeln und Entscheidungen zu treffen, sei nur eine Ich-Illusion, die unser Gehirn selbst hervorbringe und mit der es uns „permanent in die Irre“ führe. Das menschliche Bewusstsein komme zustande im Zusammenwirken zahlreicher Teilsysteme, die dynamisch interagieren; Bewusstsein, das uns als „Ich“ erscheint, entspreche tatsächlich lediglich dem Erklärungsbedürfnis unserer dominanten Hirnhälfte. Gazzaniga ist davon überzeugt, dass sich Bewusstsein und moralisches Handeln nur im „Wir“, das heißt im Miteinander und im Austausch von Erfahrungen, entwickeln kann.  

 

Bei Menschen mit Sensorischer Verarbeitungsempfindlichkeit verlaufen diese unterbewussten Verarbeitungsprozesse intensiver, tiefergehend und länger anhaltend. Ihr Verhalten ist geprägt von Empfindsamkeit, Einfühlungsvermögen, Hilfsbereitschaft und dem Bedürfnis nach Stabilität und sozialem Zusammenhalt. Mehrheitlich zeigen Menschen mit SPS eine Rechtshirn-Dominanz. Sie neigen zum übersinnlichen Denken, haben ein reiches Vorstellungsvermögen, ein ausgeprägtes ästhetisches Empfinden für die Künste, sind kreativ und haben ein gutes Raum- und Körpergefühl. Sie hören in sich hinein und folgen eher ihrer Intuition und ihren Gefühlen. Die primäre, unbewusste Reizverarbeitung erfolgt vergleichbar mit dem „Säugetiergehirn“ hochempfindlich. Sie sehen, hören, riechen und schmecken empfindlicher  und reagieren reflexartig auf unerwartete Vorgänge.

 

Immer mehr Menschen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften besinnen sich auf ihre wirklichen Bedürfnisse, die einen auf die traditionelle bürgerliche Werteordnung und die Sehnsucht nach Heimat, die anderen auf jahrhundertealte Behandlungsmethoden und die Ernährungsweise der Steinzeitmenschen. Immer mehr junge Menschen bevorzugen archaische Formen des Zusammenlebens und schwören auf Verhaltensweisen der Naturvölker und Primaten. 

 

Verliert der Mensch seinen Status als rational und bewusst handelndes Wesen. Droht das Ende der Evolution oder nehmen einige Menschen bedrohliche Veränderungen empfindlicher und früher wahr als andere? Ist die zunehmende Empfindlichkeit, das Innehalten und Besinnen auf das Wesentliche, der Rückzug auf die existenziellen Bedürfnisse und die Anpassung des Verhaltens an die Begrenztheit unseres Lebensraumes ein Teil des Prozesses, der vor Hunderttausenden Jahren begann, als die frühen Menschen gemeinsame Sache machen mussten, um zu überleben; ein Ausdruck des menschlichen Sinns für Werte und Normen. Verfügen diese Menschen über evolutionäre Eigenschaften?

 

Nach Meinung des US-amerikanischen Philosophen Ken Wilber geht jeder Evolution des Bewusstseins eine Involution, d. h. eine scheinbare Rückentwicklung voraus. Die Menschen entwickeln neue Leitideen, die ein verträglicheres Leben im Einklang mit ihrem Lebensraum und den begrenzten Ressourcen ermöglichen. Hat eine solche Bewegung eine Chance oder scheitert sie am Tempo des Fortschritts? Die Corona-Pandemie sollte dem letzten Fortschrittsoptimisten gezeigt haben, dass es so auf keinen Fall weitergehen kann. Die Selektionsmechanismen der Natur werden uns zum Umdenken zwingen.